„Wenn Erinnerungen wach werden …“ ist der Titel einer Handreichung, die der Runde Tisch Alter jetzt herausgegeben hat. „Es vermittelt Infos und Hilfestellungen für den Umgang mit älteren Menschen, die Kriegserfahrungen gemacht haben“, sagt Pastorin Dr. Dagmar Henze, Leiterin des Arbeitsfeldes „Alternde Gesellschaft und Gemeindepraxis“ im Haus kirchlicher Dienste (HkD). Anlass der Veröffentlichung waren die Erfahrungen, die kirchliche Mitarbeitende in den Besuchs- und Pflegediensten oder Angehörige Älterer zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine gemacht hatten.
Bei Menschen, die noch den Zweiten Weltkrieg, Flucht oder Bombennächte erlebt hatten, tauchten plötzlich eigene Erinnerungen auf, wenn sie Bilder des Ukraine-Krieges im Fernsehen oder in den Zeitungen sahen. „Unsere Mutter weint und zittert, wenn sie diese Bilder sieht und erzählt von den Nächten im Keller, wenn die Flieger kamen, von ihrer Angst, verschüttet zu werden, zu ersticken und zu sterben“, hörten Mitarbeitende von Angehörigen. „Auch jüngere Mitarbeitende von Pflegediensten wurden manchmal erstmals mit den schrecklichen und quälenden Erinnerungen von Seniorinnen und Senioren konfrontiert und fühlten sich hilflos“, berichtet Henze. Bei den älteren Menschen würden manchmal bisher verschüttete Traumata reaktiviert, erläutert sie. Die Bilder aus dem Ukraine-Krieg wirkten wie ein Auslöser, in Fachsprache Trigger genannt, und bewirkten, dass die Betroffenen sich emotional plötzlich wieder in der damals erlebten Situation befänden. „Wenn so etwas geschieht, kommt es sehr auf eine hilfreiche Reaktion der Nahestehenden an“, sagt die Pastorin. „Es gilt dann, den Menschen ernst zu nehmen und ihn oder sie nicht mit Worten wie ‚Ist doch alles gut‘ oder ‚Hab dich nicht so‘ abzuspeisen.“
Manchmal trauten sich Betroffene auch nicht, sich mit ihren Gefühlen oder Reaktionen ernst zu nehmen, hat Henze erfahren. Schließlich gehe es den direkt vom Krieg betroffenen Menschen sehr viel schlechter und diese verdienten Aufmerksamkeit, sagten sich Seniorinnen und Senioren. „Es stimmt natürlich, dass die Schrecken des Ukraine-Krieges in erster Linie die dort lebenden und von dort geflüchteten Menschen betreffen“, sagt die Pastorin. „Doch neben allem Mitfühlen ist es auch berechtigt, sich um die Ängste und Erinnerungen zu kümmern, die bei den hier lebenden Menschen ausgelöst werden.“
Natürlich sei nicht jede Pflegekraft, jeder Angehörige oder jede Besuchsdienstmitarbeiterin in solchen hilfreichen Reaktionen erfahren, schließlich handele es sich um eine emotionale Ausnahmesituation. „Diese Lücke versucht unsere Handreichung zu schließen“, sagt Henze. So enthält das Infoblatt Informationen darüber, was traumatische Erfahrungen sind und wie traumatisierte Menschen reagieren. Ferner wird erläutert, was eine hilfreiche Begleitung ist und wo ihre Grenzen liegen. Auch konkrete Tipps für hilfreiche Gesprächsreaktionen oder die Schaffung eines sicheren Gesprächsrahmens finden sich in der Publikation. Wichtig sei auch der Verweis auf lokale Fachberatungsstellen, wenn deutlich werde, dass ein Mensch mehr Hilfe zur Bewältigung des Traumas benötige, betont die Pastorin.
Dass eine Handreichung mit dem Umgang von reaktivierten Kriegstraumata bei älteren Menschen nötig sei, sei von allen Beteiligten des Runden Tisches Alter bestätigt worden, berichtet Henze. In dem Runden Tisch Alter sind verschiedene Einrichtungen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers zusammengeschlossen, die sich mit den Fragen rund ums Älterwerden befassen. So sind darin beispielsweise neben dem Haus kirchlicher Dienste auch das Zentrum für Seelsorge und Beratung, die Evangelische Erwachsenenbildung Niedersachsen, die Diakonie oder die Kirchengemeinden vertreten. Dass aber die Nachfrage nach der Handreichung so stark sein würde, habe alle überrascht. „Bereits am ersten Tag nach der Bekanntgabe der Veröffentlichung haben wir mehr als 90 Bestellungen erhalten“, sagt Henze und ist sich sicher, dass eine zweite Auflage nach den ersten 500 Exemplaren gedruckt werden muss.
„Erste Rückmeldungen zeigen, dass das Infoblatt als sehr praxistauglich empfunden wird“, berichtet die Pastorin. „Er enthält kurz, knapp und dennoch verständlich und fachlich kompetent alles Wissenswerte über den Umgang mit Traumata bei älteren Menschen.“ Pflege- oder Besuchsdienste könnten die kostenlose Handreichung an ihre Mitarbeitenden verteilen, ebenso sei sie für Angehörige oder Freunde älterer Menschen nützlich. Bestellungen sind über den Materialversand des Hauses kirchlicher Dienste möglich.