Die kirchliche Beauftragte für Kirche und Judentum fordert ein Betätigungsverbot der Hamas
Der Terrorangriff auf Israel und die pro-palästinensischen Demonstrationen in deutschen Großstädten schüren tiefsitzende Ängste bei den in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Die Sorge um ihre Sicherheit wächst. Die Beauftragte für Kirche und Judentum der Landeskirche Hannovers Ursula Rudnick berichtet über die Situation in Niedersachsen. Die Pastorin und promovierte Judaistin ist ebenfalls Studienleiterin des Vereins „Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen“.
Frau Rudnick, Sie kennen viele jüdische Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen. Was hören Sie von ihnen?
Viele Menschen haben Angehörige oder Freunde in Israel. Der terroristische Angriff der Hamas hat bei vielen einen Schock ausgelöst. Dies war kein Angriff auf Militäranlagen, sondern auf Menschen aller Generationen von Babys bis zu hochbetagten Senioren in ihren Wohnungen. Er erinnert an Pogrome. Bilder des vergangenen Jahrhunderts und auch aus früheren Zeiten steigen auf, Zeiten, von denen viele glaubten, dass sie der Vergangenheit angehörten.
Die Hamas hat weltweit zu Gewalt gegen Juden aufgerufen. Eine Reihe von jüdischen Institutionen und Geschäften blieben aus Sorge vor Gewalt geschlossen. Ich kenne Menschen, die keine israelische Fahne als Zeichen der Solidarität mit Israel ins Fenster oder vom Balkon hängen, weil sie befürchten, dass ihnen ein Stein ins Fenster geworfen wird. Es gibt Jüdinnen und Juden, die aus Angst am Freitagabend nicht zum Kabbalat Schabbat in die Synagoge gingen.
Das ist eine bedenkliche Entwicklung, die uns alarmieren muss. Hier sind Polizei, Politik und die Zivilgesellschaft gefordert. Wir müssen Wege finden, Veranstaltungen in Synagogen zu schützen. Es ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, wenn Jüdinnen und Juden Angst haben, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen, in die Synagoge zu gehen oder eine Israelfahne vom Balkon zu hängen.
Wie bewerten Sie die Solidarität, die Jüdinnen und Juden erfahren haben?
Die Bundesregierung und auch die Regierungen anderer Länder stellen sich an die Seite Israels und verteidigen das Recht auf Selbstverteidigung. Es war ein starkes Zeichen, dass am Montag nach dem Angriff Landesbischof Meister sowie mehrere Regionalbischöfinnen und Regionalbischöfe und viele Mitglieder von „Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen“ auf der Solidaritätskundgebung der Deutsch-israelischen Gesellschaft in Hannover waren. Kollegen und ich besuchten am letzten Schabbat Gottesdienste in verschiedenen Synagogen. Dort wurden wir herzlich empfangen.
Müsste nicht noch mehr geschehen?
Die Bekundung von Solidarität ist ein wichtiger Schritt. Darauf müssen Taten folgen: in der Politik und in der Zivilgesellschaft, die die Religionsgemeinschaften einschließt. So sollte in Deutschland ein Hamas-Betätigungsverbot eingeführt werden.
Eine weitere Möglichkeit Solidarität zu zeigen, besteht darin zu spenden, zum Beispiel der Zentralwohlfahrtsstelle des Zentralrats der Juden in Deutschland oder Keren Hayesod, eine israelische Wohltätigkeitsorganisation, oder Ärzte ohne Grenzen.
Der Reformationsfeiertag und die Erinnerung an den 9. November stehen vor der Tür. Welche Assoziationen lösen diese Tage in der jüdischen Community aus?
Beide Tage erinnern an schmerzhafte Aspekte der Geschichte: an die Zerstörung fast aller Synagogen in Deutschland in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und an den Antisemitismus Martin Luthers. 2015 verabschiedete die Evangelische Kirche in Deutschland eine Erklärung, in der Luthers Judenfeindschaft klar benannt und verurteilt wird. Dies war ein wichtiger Schritt. Wie er in der jüdischen Community bewertet wird, hängt vom Verhalten der Kirchen ab. Der 9. November erinnert auch daran, wie viele Menschen in Deutschland zuschauten, als die Synagogen brannten, und nichts taten. Viele Juden haben Angst, im Angesicht von Lebensbedrohung allein zu sein. Wieder allein zu sein. Als Juden in Europa verfolgt und ermordet wurden, gab es nur wenige nichtjüdische Menschen, die sich für sie einsetzen.
Welche Erwartungen gibt es in der jüdischen Gemeinschaft an die Kirchen?
Eine klare Verurteilung der Terrorakte der Hamas und die Bestätigung des Rechts, für die Existenz des Staates Israel einzustehen – auch mit einem Krieg. Es gibt Kritik an kirchlichen Stellungnahmen, die als nicht eindeutig empfunden werden.
Welche langfristigen Folgen für das Miteinander in Niedersachsen fürchten Sie?
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in den christlich-jüdischen Beziehungen in Deutschland viel zum Guten verändert. Die Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs haben den Weg in die Verfassung der Landeskirche gefunden. Das aufgebaute Vertrauen steht auf dem Spiel.
Sven Kriszio / Evangelische Zeitung