„Wir werden uns in Zukunft von weiteren Kirchengebäuden trennen müssen“, sagt Dr. Matthias Surall, Leiter des Arbeitsfeldes Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste. „Angesichts sinkender Kirchenmitgliedszahlen ist diese Tendenz klar. Die Frage ist nur, welche Gemeinde davon wann und wie betroffen ist.“ Da Kirchenverkauf, -umwidmung oder -nachnutzung ein komplexes Thema sei und viele Gemeinden hier hohen Orientierungsbedarf hätten, bietet die Landeskirche Hannovers in Kooperation mit dem Bistum Hildesheim dazu einen ökumenischen Fachtag an. Er findet unter dem Thema „Kirchbaukunst der 1950er bis 1970er Jahre“ am 2. November in Wolfsburg-Detmerode statt.
„Unsere Landeskirche verfügt über eine hohe Anzahl von Kirchen aus der Nachkriegszeit, die teilweise unter Denkmalschutz stehen“, führt Surall aus. „Wenn es um Anpassung an aktuelle Bedarfslagen oder Nachnutzung geht, brauchen die Verantwortlichen Kriterien, um die architektonische und künstlerische Güte dieser Bauten einschätzen und daraus Konzepte für den Umgang mit ihren Kirchen entwickeln zu können.“ Wichtig seien für Gemeinden bei baulichen Fragen auch die Vernetzung mit Experten sowie der Austausch untereinander. Neben thematischen Impulsen von ausgewiesenen Experten bieten elf Workshops bei dem Fachtag Gelegenheit, Wissen zu vertiefen, Ansprechpartner kennenzulernen und Erfahrungen miteinander zu teilen. Das Thema werde auch durch die beiden Veranstaltungsorte anschaulich, kündigt der Referent an. Der Fachtag findet sowohl in der evangelischen Stephanus- als auch in der katholischen St.-Raphaels-Kirche statt. Stephanus wurde von dem finnischen Stararchitekten Alvar Aalto entworfen und steht unter Denkmalschutz. St. Raphael, ein Gebäudeensemble, ist ein sogenannter brutalistischer Bau mit viel Sichtbeton.
„Dass der Fachtag ökumenisch stattfinden wird, ist eine hervorragende Chance“, betont Surall. „Der Umgang mit dem zu großen Gebäudebestand betrifft beide Kirchen gleichermaßen. Das bietet die Möglichkeit zu Kooperation, zu konfessionsübergreifendem fachlichen Austausch sowie zu gemeinsamen Konzeptentwicklungen vor Ort.“ Die Spanne der Workshop-Themen reicht von Fragen des Denkmalschutzes bei Nachkriegsbauten über Nachnutzungskonzepte und -beispiele bis zu kunsthistorischen und kirchenpädagogischen „Sehhilfen“ für Kirchen der 50er bis 70er Jahre. Auch die Frage, wie Gemeinden in ihren Sozialräumen mit säkularen Partner*innen zusammenarbeiten können, um ihre Gebäude neu und anders zu nutzen, wird in einem Workshop thematisiert. „Die Teilnehmenden werden zahlreiche Praxisbeispiele aus ganz Niedersachsen kennenlernen“, sagt Surall. So gehe es neben den Wolfsburger Fachtags-Kirchen auch um hannoversche Gebäude wie die zum Studentenwohnheim umgebaute Gerhard-Uhlhorn-Kirche, die von mehreren christlichen Gemeinden genutzte Auferstehungskirche oder die Melanchthongemeinde, die in ihre Kirche Gemeinderäume integriert hat. Auch Kirchen aus Lüneburg, Hamburg oder Hildesheim dienen als Beispiele für eine zukunftsorientierte Weiterentwicklung.
„Wir haben unseren Fachtag unter das Motto ‚Wahrnehmen.Wertschätzen.Weiterentwickeln‘ gestellt“, berichtet Surall. „Ich muss erst einmal wahrnehmen, was für eine Kirche ich überhaupt habe, dann kann ich diese wertschätzen und auf diesem Fundament eine sachgerechte Weiterentwicklung betreiben.“ Wertvolle Impulse würden auch die beiden Referenten liefern, die den Fachtag mit einem dialogischen Hauptimpuls zum Thema „Endstation Nachkriegskirche? Erhalten oder aufgeben – worüber streiten wir eigentlich“ eröffnen. Eingeladen ist Professorin Stefanie Lieb von der Katholischen Akademie Schwerte, die ein DFG-Forschungsprojekt zum Thema „Sakralraumtransformation in Deutschland“ leitet. Als ihr Dialogpartner fungiert Professor Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirchen Deutschlands (EKD). Die Referenten in den Workshops repräsentieren das breite Spektrum des vielfältigen Themas „Kirchbau“ in Deutschland: Vertreter*innen aus der Landeskirche und dem Bistum, aus Akademien oder Architekturgremien, Denkmalschützer*innen, Kirchenvorstände, Pastor*innen oder Wirtschafts-Projektentwickler*innen.
„Der Fachtag ist ein einmaliges und komplexes Angebot, das neben den ja auch oft schmerzlichen Aspekten einer Kirchennachnutzung neue Ideen und Chancen für die Zukunftsentwicklung in den Vordergrund rückt“, sagt Surall.