Seit Hedwig A. (Name geändert) die Bilder der verzweifelten Menschen, der Toten und Zerstörungen aus dem Krieg gegen die Ukraine im Fernsehen sieht, kann sie schlecht schlafen. Bedrängende Bilder ihrer eigenen Kriegs- und Fluchterlebnisse steigen in ihr auf. Als ob keine Zeit vergangen wäre, spürt die 86-Jährige wieder ihre schrecklichen Ängste, die Hilflosigkeit und Verlassenheit der damaligen Zeit.
Christine T., die einmal in der Woche im Rahmen des kirchlichen Besuchsdienstes mit der Seniorin Kaffee trinkt, spürt die gedrückte Stimmung von Hedwig A.. Auf ihre vorsichtige Nachfrage hin kann die gebürtige Schlesierin endlich darüber sprechen, wie sehr sie die Bilder des Ukraine-Krieges belasten und eigene schmerzhafte Gefühle aufwühlen. „Unsere Mitarbeitenden aus dem Besuchsdienst berichten uns seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine immer wieder von ähnlichen Erlebnissen mit Senioren und Seniorinnen“, sagt Pastorin Inken Richter-Rethwisch vom Arbeitsfeld „Alternde Gesellschaft“ im Haus kirchlicher Dienste (HkD) in Hannover. „Wir haben daraus eine Veranstaltung entwickelt, die genau dieses Thema aufgreifen soll.“
„Einschalten! – Da werden Kriegserinnerungen wach“ ist der Titel eines Videoformats, zu dem das HkD Interessierte am Mittwoch, 25. Mai 2022, von 14 bis 15 Uhr einlädt. Als Redner haben die Initiatorinnen Hannovers ehemaligen Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg eingeladen. „Er repräsentiert zum einen selbst die ältere Generation, zum anderen hat er sich bereits in anderen Veranstaltungen für eine Würdigung der Nachkriegs-Aufbaugeneration ausgesprochen“, sagt Richter-Rethwisch. Ziel der Veranstaltung sei, ein Forum für das Thema „Wiederkehr der oft verdrängten Kriegs- und Fluchterlebnisse in der älteren Generation“ zu schaffen und die Öffentlichkeit für dieses Kapitel deutscher Geschichte zu sensibilisieren. Zielgruppe seien auch die Menschen, die sich in der Betreuung älterer Menschen engagierten oder beruflich mit ihnen arbeiteten.
„Als Kinder haben wir auf den Trümmergrundstücken gespielt, haben die zerstörten Städte erlebt und die Flüchtlinge, die kamen. Jetzt tauchen in meiner Generation die Erinnerungen an diese Zeit wieder auf“, sagt Herbert Schmalstieg, ehemaliger Oberbürgermeister von Hannover. „Viele sehen sich wieder auf der Flucht, erinnern sich, dass sie als 15-Jährige in den Krieg mussten, verletzt zurückkamen, ihre Väter verloren hatten.“ 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach der Befreiung von Diktatur und Faschismus, gebe es wieder Krieg in Europa, das „Nie wieder“ gelte offensichtlich nicht mehr, sagt der 79-Jähre. Leider sei in den Nachkriegsjahren oft nur von dem „verlorenen Krieg“ gesprochen worden, nicht aber von der Befreiung von Diktatur und Faschismus. „Es geht jetzt um die Aufarbeitung der aktuellen Lage und auch darum, Verbindungen zu dem verbrecherischen Angriffskrieg Deutschlands herzustellen, stärkere Akzente in der Friedensarbeit zu setzen“, fordert Schmalstieg. „Die Ukraine bewegt uns stark, die Hilfsbereitschaft ist groß. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass weltweit mehr als 80 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Wir müssen den ukrainischen Flüchtlingen helfen, aber auch denen aus anderen Ländern, wir müssen den Angriffskrieg Putins verurteilen, aber auch die Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen der Türkei.“ Für den ehemaligen Oberbürgermeister gibt es „nichts Wichtigeres als Frieden auf der Welt“. „Wie schön wäre es, wenn der Wunsch aus der Bergpredigt ‚Selig sind, die Frieden stiften‘ in Erfüllung ginge“, fügt Schmalstieg hinzu.
„Aus den Berichten unserer Mitarbeitenden wissen wir, wie gut es den Seniorinnen und Senioren tut, über ihre oft lang verdrängten Erlebnisse im Krieg oder auf der Flucht sprechen zu können“, hat Richter-Rethwisch erfahren. „Natürlich schulen wir unsere Mitarbeitenden entsprechend, dass sie beim Aufbrechen starker Traumata auch professionelle Hilfe für die Betreuten organisieren.“ Doch oft helfe das einfache Zuhören und Mitfühlen. Das Thema „Kriegstraumatisierung“ sei in der Nachkriegszeit gesellschaftlich kaum bekannt und fachlich auch wenig erforscht gewesen. Erst in jüngster Zeit wisse man mehr über die oft lebenslangen Folgen erlittener Traumatisierungen, aber auch um ihre Heilungsmöglichkeiten. Zu der Verdrängung komme nicht nur bei Seniorinnen und Senioren ein Schamgefühl hinzu, angesichts der Leiden ukrainischer Zivilisten und Soldaten die eigene Befindlichkeit wichtig zu nehmen. „Ich kann mich doch nicht um meine Seelenwehwehchen kümmern, wenn nicht fern von hier Mütter und Kinder in Bunkern sitzen, hungern und vor Angst nicht aus und ein wissen“ sei ein immer wieder geäußertes ambivalentes Gefühl, auch bei jüngeren Menschen, sagt Richter-Rethwisch. „Das ist natürlich nachvollziehbar, doch nicht ernst genommener eigener Seelenballast lähmt die Menschen, eben auch in ihrer Fähigkeit, sich den Nöten anderer zu öffnen.“ So sei es auch ein Ziel der Veranstaltung angesichts der Bilder aus dem Ukraine-Krieg befreiende Wege aus dem Gefühl, überflutet zu werden, zu resignieren oder sich zurückziehen zu müssen aufzuzeigen. „So wie wir unsere Mitarbeitenden darin schulen, die Resilienz-Fähigkeiten der von ihnen Betreuten zu stärken, wollen wir bei der Veranstaltung auch Wege des Widerstands gegen Lähmung und Hilflosigkeit angesichts der Kriegs-Nachrichten aufzeigen.“